Die Kranichfrau

(nach einem japanischen Märchen)
       Fassung Kerstin Raatz

 

Es war einmal ein armer Tuchweber, der hatte nichts als eine kleine Hütte mit einem Webstuhl darin. Weil er so arm war, konnte er kein gutes Garn kaufen, und weil er kein gutes Garn hatte, konnte er kein gutes Tuch weben, und so blieb er arm.


Von seiner Hütte aus konnte er das Meer sehen, und seine größte Freude war es, die weißen Kraniche zu beobachten, die jeden Tag zur Küste geflogen kamen. Eines Abend brach ein Unwetter über die Gegend herein, und als der Weber am nächsten Morgen aus seiner Hütte kam, da fand er einen verletzten Kranich. Er hob den großen Vogel auf und nahm ihn mit nach Hause. Dort fütterte und pflegte er den Vogel, bis er wieder genesen war. Dann ließ er ihn frei und sah ihm nach, wie er sich aufschwang und davonflog.


Kurze Zeit später kam eine Frau zur Hütte des Tuchwebers. Sie stand eines Tages einfach vor seiner Tür, und sie war so schön, daß er sich in sie verliebte, sobald sein Blick auf sie gefallen war. Er bat sie, ihn zu heiraten und sie willigte ein. Da lebten sie ein Zeit lang sehr glücklich miteinander. Aber die Armut machte ihnen große Sorgen. Da sprach die Frau: „Ich will uns ein wertvolles Tuch weben, das können wir verkaufen und eine Weile davon leben.“


Der Weber aber mußte ihr versprechen, ihr nicht bei der Arbeit zuzusehen.


Als das Tuch fertig gewebt war, war es wirklich das schönste und feinste Tuch, daß der Weber je gesehen hatte. Sie verkauften es zu einem guten Preis und lebten wieder eine Zeit lang glücklich und zufrieden zusammen. Als aber das Geld ausgegeben war, bat der Weber seine Frau, noch ein Tuch zu weben. Sie wurde sehr traurig darüber, aber schließlich willigte sie ein. Wieder mußte er ihr versprechen, sie nicht bei der Arbeit zu beobachten. Er versprach es und sie ging in die Hütte an den Webstuhl.


Nun war der Weber aber sehr neugierig geworden und wußte, daß es einen Spalt in der Wand der Hütte gab. Durch diesen blickte er und sah am Webstuhl einen großen weißen Kranich, der sich mit dem Schnabel Federn aus der eigenen Brust riß und mit diesen das Tuch webte. Als der Kranich merkte, daß der Weber sein Versprechen gebrochen hatte, flog er zum Fenster hinaus und kam nie mehr zurück.